Das Konzept des Kime

So, Jun 12, 2011

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Eines der bekanntesten Konzepte und gleichzeitig auch eines der am meisten missverstandenen im Karate ist das Konzept des Kime. Oft als Fokus oder Brennpunkt begriffen, wird versucht dies mit dem Einrasten einer Technik zu erklären. Dieses abrupte Abstoppen einer Technik soll dafür sorgen, dass beim Gegenüber so eine Art Schockeffekt auftritt. Aber mal ehrlich. So lange nur in die Luft geschlagen wird, mag diese Erklärung vielleicht Sinn machen, aber sobald eine Technik mit dieser Auffassung von Kime auf einen echten Widerstand trifft, werden viele merken, dass eine solche Technik relativ kraftlos ist. Mir ist es jedenfalls so ergangen. Das bewusste Ausbremsen der Technik kurz vor dem Aufprall hat natürlich eine negative Wirkung auf die Krafterzeugung bei einem Schlag.

Harada Mitsusuke, einer der wenigen noch lebenden Meister, die unter Funakoshi Gichin und seinem dritten Sohn Funakoshi Yoshitaka lernten, wurde in einem Interview zum Thema Kime befragt. Dies war seine Antwort:

Kime ist sehr schwer zu erklären. Das erste Mal hörte ich das Wort Kime im ersten Jahr, in welchem ich der Waseda Universität beitrat. Wir sollten Gohon-Gumite üben, beim fünften Angriff sollten wir verteidigen und kontern. Das Wort „Kime-Te“ wurde wiederholt und bedeutete, das Ganze nach dem fünften Angriff zu „beenden“ oder zu „erledigen“.

Nach dem Sommer, zu Beginn des zweiten Semesters, hörte ich das Wort Kime erneut. Herr Okuyama (Tadao) verwendete diesen Begriff, aber seine Idee dahinter unterschied sich erheblich von den vorherigen Erklärungen, die ich bis dahin gehört hatte. Bei Okuyamas Idee von Kime ging es mehr ums Fühlen, aber zu dieser Zeit konnten wir nicht verstehen, was er damit meinte.

Dann wurde im Jahr 1949 die JKA geschaffen und alle Universitäten begannen ihre Graduierungen zusammen auszurichten, zweimal jährlich. Der Begriff Kime wurde immer öfter verwendet, aber jedes Mal unterschied sich die Auslegung des Begriffes, abhängig davon, wer die Prüfungen an einem Tag abnahm. Es gab viel zu viele Vorstellungen und Ideen zu dem Begriff Kime.

Später, als ich begann mit Egami zu üben, fragte ich ihn nach dem Begriff Kime. Egami meinte: Man kann es nicht sehen, da es für das Auge unsichtbar ist. Deshalb basiert alles nur auf Vorstellungen und Ideen. Um Kime richtig zu verstehen, muss man sich gegenseitig treffen. Ich versuchte also Egami zu treffen, mit der Art des Kime, das ich bisher gelernt hatte, aber als ich ihn berührte fiel ich um. Also versuchte ich es noch einmal, diesmal aber ohne diese Art des Kime und diesmal war es ganz anders. Daher glaube ich, dass Kime kompletter Unsinn ist. Es ist eine Weltanschauung und daher nicht realistisch.

In der Vergangenheit habe ich mit dem Faustrücken (Uraken) Holz zerschlagen. Das habe ich ebenfalls mit einem totalen Verzicht auf dieses Kimekonzept vollbracht. Stattdessen habe ich mich nur darauf konzentriert, wie mein Arm und meine Faust auf das Holz auftreffen, damit es  bricht.

Es wird immer behauptet, dass im Shōtōkan der physische Aspekt des Kime, die totale muskuläre Anspannung sei, aber das ist nicht Shōtōkan, das war Nakayamas Idee – JKA Kime. Das Problem des Konzeptes des Kime aufzukären ist nahezu unmöglich, da es sich dabei um eine Weltanschauung bzw. eine Ideensammlung handelt, die von Person zu Person unterschiedlich ist.

Aus meiner persönlichen Erfahrung heraus möchte ich die Idee des Kime ganz vergessen.

Kime ist also nicht einfach zu erklären und noch schwerer zu demonstrieren. Warum kam es also zu der heutzutage sehr verbreiteten Auffassung von Kime? Da, laut Harada, das JKA Kime Nakayamas Idee war, schauen wir doch einfach mal, was andere JKA Adepten unter diesem Begriff verstanden.

Nishiyama Hidetakas Buch „Karate – The Art of Empty-Hand Fighting“ enthält eine kurze Erklärung des Begriffes Kime, aus der Sicht des Autors. In dem Abschnitt in welchem er mentale und physische Prinzipien des Karate erklärt, beschreibt er Kime als eine Kombination aus beidem. Hier können die folgenden Zeilen nachgelesen werden:

Der Fokus im Karate bezieht sich auf die Konzentration der gesamten Energie des Körpers innerhalb eines Augenblickes auf ein bestimmtes Ziel. Dies beinhaltet nicht nur die Konzentration der körperlichen Kraft, sondern auch die oben schon beschriebenen Formen der mentalen Konzentration.

Er bezieht sich bei den oben beschriebenen Formen der mentalen Konzentration auf die von ihm, in den mentalen Prinzipien, beschriebenen Begrifflichkeiten „Mizu no Kokoro“ und „Tsuki no Kokoro“.

In seiner Abhandlung über das Jiyū-Gumite kann man dann noch folgendes lesen:

Es besteht offensichtlich die Gefahr einer ernsthaften Verletzung, sollte einer der Teilnehmer tatsächlich einen vitalen Punkt bei seinem Gegner mit einem fokussierten Angriff treffen. Wie dem auch sei, eine Art der Überprüfung der Fähigkeiten im Karate ist, selbst die stärkste Technik kurz vor dem Kontakt mit dem Ziel zu konzentrieren, so dass diese Gefahr gering ist.

Okazaki Teruyuki schreibt in „Modernes Karate“, dass Kime eine Kombination aus den folgenden Faktoren sei:

Die brennpunktartige Konzentration der Energie (Kime) bezeichnet den Prozess der Verbindung aller wesentlichen Komponenten einer Karatetechnik. Nur durch das im Moment des Auftreffens bewusste Konzentrieren der physischen (und auch geistigen) Energie wird eine Technik effektiv. Dies ist ein komplexer Vorgang und erfordert die Einbeziehung folgender Faktoren:

  • Distanz (vom Ziel)
  • Technik
  • Muskelspannung
  • Schnelligkeit
  • Zeitgefühl (Timing)

Diese Auffassung von Kime, nämlich das Anspannen der Muskeln um eine Bewegung kurz vor dem Ziel abzustoppen, war hilfreich bei der Einführung von kämpferischen Vergleichen (Wettkampf). Um die dabei zu erwartende Verletzungsgefahr zu minimieren, wurde nun also dieses Abstoppen der Bewegung propagiert.

Für ein besseres Verständnis des Begriffes Kime, soll nun einmal der Begriff selbst etwas näher beleuchtet werden. Es existieren zwei mögliche Schreibweisen für Kime.

極め – extrem, äußerst, endgültig
決め – entscheiden

In der ersten Schreibweise wird das Zeichen 極 verwendet. Es hat die Bedeutung Pol, Extrem oder Höhepunkt. In diesem Zusammenhang könnte man unter Kime verstehen, dass etwas zu einem Ende gebracht oder auf die Spitze getrieben wird. Ich verstehe also unter Kime den Höhepunkt der Wirkung einer Bewegung, so dass diese einen Kampf beendet.

Bei der zweiten Schreibweise findet das Zeichen 決 Verwendung. Es bedeutet soviel wie Entscheidung. Auch das macht in meinen Augen Sinn. Eine Bewegung die einen Kampf beendet, entscheidet diesen. Hat also eine Bewegung Kime, so soll dies verdeutlichen, dass diese Bewegung kampfentscheidend ist. Das möglichst jede Bewegung mit Kime ausgeführt werden soll, liegt meines Erachtens an der Tatsache, dass sich hier das „Ikken Hisatsu“ Prinzip widerspiegeln soll.

All das sagt aber nicht im geringsten etwas darüber aus, auf welche Art und Weise eine Bewegung ausgeführt werden soll, damit diese Kime hat. Schon gar nicht, dass man wie ein Roboter in abgehackten Bewegungen umhergeistern soll. Im Jūdō gibt es übrigens eine Selbstverteidigungsform – Kime no Kata (極の形) – Form der Entscheidung. Hier wird nirgends eine Bewegung eingerastet.

Funakoshi verwendet in seinen Publikationen die erste Schreibweise (極). Trotz der Erklärungen, dass Kime die Konzentration aller Energien sei,  hat Kime nichts mit Ki/Chi also 氣 zu tun.

Das Einrasten der Bewegung sehe ich persönlich als Schutz vor Gelenkverletzungen, für den Fall, dass das Ziel verfehlt wird oder das Ziel beim Auftreffen zu sehr nachgibt (der Kopf beispielsweise). Ansonsten versuche ich so entspannt wie möglich das Ziel zu penetrieren.

Für  mich hat eine Technik Kime, wenn die Körpermechanik korrekt war. Erst dann kann das volle Potential an Kraft einer Technik voll ausgeschöpft werden und dann ist diese Technik auch wirkungsvoll, also entscheidend im Sinne von beendend. Dahinter steckt natürlich auch eine mentale Einstellung. Man muss es so zu sagen wirklich wollen, also eine Art „Killerinstinkt“ entwickeln. Dies konditioniert auch für den Notfall, da ein normaler Mensch Hemmungen hat, einen anderen Menschen wirklich schwer zu verletzen. Es muss in einem Notfall eine entsprechende Entschlossenheit an den Tag gelegt werden, um nicht zu zögern und somit nicht die vielleicht einzige Chance, die man vielleicht hatte, verstreichen zu lassen.

Kime ist also für mich die entscheidende Wirkung am Gegner. Aber da es ja viele Ideen und Auffassungen zu diesem Konzept gibt, kann sich jeder selbst ein Bild darüber machen, was in seinen Augen sinnvoll ist und was nicht.

In diesem Sinne.

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