Buchrezension Shōtōkan Band I und II von Henning Wittwer

So, Dez 22, 2013

0 Kommentare

Da ich in meinen Artikeln recht häufig auf Henning Wittwers Veröffentlichungen als Quellen zurückgreife, dachte ich mir, dass ich diese beiden Bücher einmal für diejenigen rezensiere, die noch unschlüssig sind oder sie noch gar nicht kennen. Band I erschien 2007 und Band II erschien 2012 und wurden jeweils durch Henning Wittwer selbst verlegt. Beide Bücher sind im Format Din A5 und kommen mit einem festen Einband (Hardcover) daher und auch das Papier ist von sehr guter Qualität.

 

Band I und II

 

Schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis lässt erahnen, wie hoch die Dichte an Informationen in diesen beiden Werken ist. Die beiden Bücher sind jeweils in zwei große Teile gegliedert. Im jeweils ersten Teil präsentiert Wittwer seine, direkt aus dem Japanischen, angefertigten Übersetzungen der frühesten und wichtigsten noch erhaltenen Dokumente wie Matsumuras Makimono (巻物 – Schriftrolle) zur Kampfkunst, Itosus Brief an das Bildungsministerium und die in einem Interview festgehaltenen Aussagen von Asato, Funakoshis Geschichten zum Karate sowie die Heldengeschichten über Itosu und vieles mehr. In dieser Liste der frühzeitlichen Dokumente fehlt lediglich noch Hanashiros Abhandlung zum Kumite aus dem Jahre 1905, in dem erstmalig die Zeichen 空手 für Karate verwendet wurden, wobei ich derzeit nicht weiß, ob von diesem überhaupt noch ein Exemplar existiert.

Darüber hinaus gibt er Informationen zum Leben und Wirken der jeweiligen Autoren an sowie seine Anmerkungen zu den Texten. Hierdurch werden diese Schriften in den entsprechenden historischen Kontext eingeordnet und somit tragen seine Anmerkungen erheblich zum Verständnis dieser Texte bei. Im zweiten Teil widmet er sich seinen historischen Untersuchungen hinsichtlich diverser Themen wie beispielsweise die Übertragungslinien einzelner Kata. Er untersucht, welche Rolle das Shaolin Kloster bei der Entwicklung des heutigen Karate spielte und wie groß der Einfluss der japanischen Schwertkunst und der damit einhergehende Gedanke des Budō auf das Karate war. Die Geschichte des Shōtōkan Dōjō, die Rolle von Kata und Kumite sowie die technischen Merkmale des Karate aus dem Shōtōkan Dōjō der damaligen Zeit werden ebenfalls ausführlich beleuchtet.

Da der Autor bei seiner Arbeit sehr darauf bedacht war, möglichst exakt zu übersetzen, um möglichst wenig Spielraum für Interpretationen zu schaffen, lesen sich diese übersetzten Texte nicht ganz so einfach. Das liegt zum einen daran, dass die japanische Grammatik eine gänzlich andere ist als die deutsche und zum anderen daran, dass zu der damaligen Zeit anders gesprochen wurde als heute. Die üppige Ausstattung mit Fußnoten, die das Verständnis der manchmal merkwürdigen scheinenden Grammatik erhöhen, ergänzen viele Hintergründe und erklären entsprechende Zusammenhänge. An Stellen wo auf Grund der oben genannten Schwierigkeiten, keine exakte Übersetzung möglich war, wird explizit darauf hingewiesen. Wittwer gibt an, welch andere Möglichkeiten es für die Übersetzung gibt und warum er sich für seine entschieden hat.

Beim ersten Lesen kam mir vieles sehr bekannt vor, durch englische Übersetzungen, unter anderem von Patrick McCarthy, allerdings war ich tatsächlich einfach überwältigt von der Fülle an Informationen und Details und nicht in der Lage alles zu erfassen. Auch nach mehrmaligem Lesen stelle ich immer noch fest, dass ich beim vorherigen Lesen wohl das ein oder andere übersehen haben muss.

Anhand eines ganz kurzen Beispiels einer Übersetzung von McCarthy möchte ich einmal kurz aufzeigen, wie genau die Übersetzung Wittwers im Vergleich zu McCarthy ist. Die Übersetzung eines Textes Funakoshis über seinen Lehrer Asato findet sich in McCarthy’s „Tanpenshu – The Untold Stories of Gichin Funakoshi“. Auf der Seite 46 findet sich im oberen Abschnitt ein letzter Satz den McCarthy folgendermaßen übersetzt.

I was honored, and humbly complied.

In Wittwers Band I, in der die Übersetzung des selben Textes zu finden ist, steht auf Seite 51 dieser Satz folgendermaßen übersetzt da.

Mein heutiges Dasein steht vollständig im Schatten des Meisters.

Letztere ist meines Erachtens nach eine viel stärkere Aussage, als die in der Übersetzung McCarthy’s und verdeutlicht doch auf eine wesentlich exaktere Art und Weise wie intensiv wohl das Verhältnis zwischen Funakoshi und seinem Lehrer Asato tatsächlich aussah.

Was mich sehr überzeugt hat, ist die Tiefe des Wissens um die Kampfkunst des Autors selbst, als auch das Wissen um die Quellen. So erkennt Wittwer beim Übersetzen immer wieder Zitate aus chinesischen Strategieklassikern, die anderen Übersetzern nicht auffielen. Folgendes Beispiel soll dies einmal verdeutlichen.

In Funakoshis Karate no Hanashi (空手の話) – Geschichten zum Karate – übersetzt Richard Berger in seinem Buch „The Essence of Karate“ auf Seite 75.

Master Azato constantly spoke of and advocated an understanding of the laws of yin and yang [negative and positive cosmic laws], invoking the old saying: Battle lies between ki (気) and Sei (正); without converting ki into sei, and sei into ki, there would be no way to achieve victory. It is a given that Karate, as well, adheres to the fundamental principle of martial arts in that attacks quickly become blocks and blocks are transformed into attacks.

Die Zeichen Ki (気) und Sei (正) hat Berger noch mit den Fußnoten 35 und 36 versehen in denen er erklärt, dass mit Ki (FN35) die spirituelle Energie gemeint ist und mit Sei (FN36) Yang oder die positive Energie gemeint ist und das wohl noch ein drittes Zeichen Fu (負) ein Teil dieses Konzeptes ist, welches Yin, die negative Energie beschreibt.

McCarthy veröffentlichte seine Übersetzung dieses Textes in „Tanpenshu – The Untold Stories of Gichin Funakoshi“. Auf Seite 75 steht dort folgendes gedruckt:

Master Asato always advocated the laws of Yin and Yang encouraging us to perceive it through an old expression; „Ki/Qi is the battle existing in the universe, if we are incapable of utilizing this energy victory will not be within our reach.“ In regards to Karate, it does not make any difference concerning this martial art’s principle; Offence and defense are interchangeable in the same way that the laws of Yin & Yang influence each other.

Im Vergleich schauen wir uns die Übersetzung von Wittwer an. In Band II auf Seite 66 schreibt er folgendes.

Mein verehrter Lehrer, Meister Asato, erklärte ununterbrochen das Gesetz von Yin and Yang [und zwar] mit den alten Worten: „Der Kampf ist zwischen geheimnisvoll [Ch’i] und normal [Chêng]. Indem sich geheimnisvoll verwandelt, wird es normal. Indem sich normal verwandelt, wird es geheimnisvoll. Wenn dem so ist, was vermag nicht den Sieg zu erringen!“ Und er forderte, dass man das da selbst erfährt. Auch im Karate verwandelt sich ein Angriff sofort in eine Annahme und eine Annahme wandelt sich in einen Angriff um. Die Theorie der Kampfkunst ändert sich nicht.

Ch’i und Chêng sind mit der Fußnote 319 versehen, in der darauf aufmerksam gemacht wird, dass Ch’i und Chêng ein bekanntes Konzept aus den chinesischen Militärklassikern ist und das im Text fälschlicherweise das Zeichen Ki (気) verwendet wird an Stelle von Kī(奇). Diese Verwechslung, vermutet er, liegt an der gleichen Aussprache der beiden Zeichen. Des Weiteren erfolgt noch der Hinweis auf die Erklärung dieses Konzeptes in Band I.

Während also Wittwer eine konkrete taktische Anweisung aus alten chinesischen Militärklassikern erkennt, unter anderen wird dieses Konzept, welches Funakoshi in weiteren Texten auch als das Geheimnis der Schlacht bezeichnet (siehe Band I – Erörterung von Seikan) im Kapitel 5 des Ping Fa eines gewissen Sun Tzŭ behandelt, versucht Berger, auf Grund eines Schreibfehlers und mangelnden Wissens um die chinesischen Militärklassiker das Ganze mit der sprituellen Kraft (気) und positiven (正) sowie negativen (負) Energien zu erklären. McCarthy bezieht sich ebenfalls auf das falsche Ki.

Genau solche ungenauen Übersetzungen, wie beispielsweise Berger sie vorgelegt hat, führen häufig dazu, das Funakoshi in ein merkwürdiges Licht gerückt wird, der sich in seinen Texten mit abstrakten Themen beschäftigt, obwohl er konkrete technische und taktische Hinweise gibt, die schon seine Lehrer aus den alten chinesischen Militärklassikern lernten.

Dies und andere Beispiele verdeutlichten mir wie wertvoll Wittwers Arbeit meiner Meinung nach ist. Mein Karateweltbild wurde durch diese für mich teilweise neuen Erkenntnisse ordentlich zurecht gerückt. Sachen die Vorher wenig Sinn machten sind nun erklärbar. Auf andere Inhalte, auf die ich vorher eine Art Tunnelblick hatte, kann ich nun aus anderen Perspektiven blicken und die ermöglicht mir eine neue Form des Verständnisses. Ich finde es großartig, dass Henning Wittwer seine Erkenntnisse mit der Öffentlichkeit teilt. Wer sich ernsthaft für die Kunst des Karate und deren Geschichte interessiert, sollte diese und zukünftig erscheinende Werke dieses Autors unbedingt lesen oder besser studieren.

Beide Bücher können nur direkt über den Autor bezogen werden. Im November neu erschienen ist übrigens sein drittes Buch „Funakoshi Gichin, Funakoshi Yoshitaka : Zwei Karate-Meister“ welches als Einstieg in die gesamte Thematik dienen soll. Weitere Informationen zu seiner Arbeit gibt Wittwer selbst auf seiner Webseite www.gibukai.de.

In diesem Sinne.

 

Hinterlasse einen Kommentar

Die E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht oder weitergegeben. Pflichtfelder sind gekennzeichnet *

*
*


− eins = 6