Heute soll einmal die große Dreifaltigkeit des Karate genauer betrachtet werden. Nein, es geht nicht um Kihon – Kata – Kumite, es geht um das Prinzip der Vereinigung von Shin, Gi und Tai. Was genau ist darunter zu verstehen? Eine Betrachtung der einzelnen Elemente dieser Trinität gibt genaueren Aufschluss darüber.
心 – Shin (Kokoro) – Herz, Geist, Stimmung, Seele
技 – Gi (Waza) – Technik, Fähigkeit
体 – Tai (Karada) – Körper, Gesundheit
Auch für Funakoshi Gichin hatte Karate drei bedeutende Aspekte. Er sah Karate als eine Form der Körperertüchtigung, betonte seinen Wert als Methode des Selbstschutzes und propagierte Karate als sehr wertvoll, hinsichtlich der charakterlichen Entwicklung, als Übung für den Geist.
So schreibt er in seinem 1925 erschienenen Werk „Rentan Goshin Karate Jutsu“:
Da Karate systematische Bewegungen nach links, rechts, hoch und runter für den ganzen Körper beinhaltet, kann man sagen, dass hinsichtlich des körperlichen Trainings darin sein größter Wert liegt. Darüber hinaus ist es, da eines der Karateprinzipien eher die Konzentration der Kraft als dessen Zerstreuung ist, verglichen mit anderen Kampfkünsten, besonders gut für die muskuläre Entwicklung.
Weiterhin betont er, dass die jungen Männer auf Okinawa alle durchweg positiv bei der Musterung auffielen, durch eine sehr gute körperliche Entwicklung. Ein weiterer Beweis für diese These ist, dass viele der späteren großen Meister als Kinder eher schwach und kränklich waren. Aber alle erreichten für die damaligen Verhältnisse ein erstaunliches Alter. Laut Funakoshi wurde Itosu 85, Asato 80 und Matsumura sogar 93. Funakoshi selbst erreichte ebenfalls ein recht stattliches Alter von 88 Jahren.
Zum Thema Selbstschutz schreibt er in dem oben genannten Buch:
Mit dem Fortschritt der Gesellschaft wird das Tragen von Waffen heutzutage zunehmend inakzeptabler. Es gibt sogar Befürwortungen, die Polizei zu Entwaffnen. Gibt es eine anspruchsvollere und vornehmere Kampfkunst als Karate, die einen befähigt sich selbst zu verteidigen und einen Widersacher nur mit den bloßen Händen zu besiegen? Es gibt keine andere Kampfkunst die für die gegenwärtige Situation so zweckmäßig, nützlich und besser geeignet ist. […] Ich glaube fest daran, dass keine dem Karate überlegende Kunst existiert, die speziell als Methode zur Selbstverteidigung für Frauen und Kinder und als Mittel zur Stärkung der eigenen Gesundheit fungiert.
Karate als geistige Übung sieht er wie folgt:
Da das Karatetraining seit jeher Demut und Selbstüberwindung als grundlegende Prinzipien besonders betont, trägt es wesentlich zur Entwicklung des Charakters bei, auch wenn einem diese Entwicklung nicht bewusst sein sollte.
Funakoshis Leher, Itosu Ankō, stellte in seinem Brief an das Bildungsministerium ebenfalls fest, dass Karate besonders wichtig für die japanische Nation wäre.
Karate endet nicht bei der Körper schulenden Ausbildung. Man festigt die Idee, sich öffentlich, wann auch immer, ohne Leib und Leben zu bedauern dem Wohle des Herrn und der Eltern treu und tapfer zu weihen. […] Karate macht sich zum Ziel, in erster Linie Muskeln und Knochen zu stärken, den Körper hart und fest wie Eisen und Stein zu machen. […] Und es bringt natürlich ein Klima der kriegerischen Tapferkeit zur Geltung. […] Was das Ausdrücken der Kunst des Karate betrifft, so muss man üben, indem man schon vorher entschieden hat, dieses nährt den Körper, um ihn tauglich zu machen, oder dieses nährt den Gebrauch, um ihn tauglich zu machen. […] Wenn man Karate ausübt, ist der Geist wie wenn man auf das Schlachtfeld geht. […] Im Karate erfahrene Menschen entfalten seit alten Zeiten oft ein langes Leben. (Übersetzung Henning Wittwer)
Itosu beschreibt Karate als eine Methode zur Körperertüchtigung, die gleichzeitig auch positive Auswirkungen auf den Charakter hat und Tugenden wie Treue und Tapferkeit fördert.
Funakoshis Lehrer, Asato Ankō, erwähnt in einem Gespräch mit Funakoshi, das 1914 unter dem Titel „Okinawa no Bugi – Kampftechniken aus Okinawa“ veröffentlicht wurde, unter anderem folgende Punkte.
Da im Karate-Training die Übung des Geistes an erster Stelle steht, gehört die Leibesübung zu den zweitrangigen Zielen. Menschen die Karate ausüben, sind heiter und nicht schwermütig. Weil ihr Selbstbewusstsein und ihre Kraft stark sind, zittern sie nicht grundlos. Und da Schlichtheit, Aufrichtigkeit, Eifer und Durchhaltevermögen gestärkt werden, halten sie Lernen, Arbeiten und alle Leiden durch. Da sie auch unkompliziert und nicht habgierig sind, steigen sie zu einer natürlichen Würde auf. […] Seit alten Tagen wurden wir in der Lehre „Karate ni Sente nashi“ unerwiesen. Aus erzieherischer Sicht werden die jungen Kinder durch diese Worte ermahnt. […] Im Falle des Überleben des Staates oder wenn Eltern, Frau und Kinder beleidigt werden, der Feind einem auf den Leib rückt und nötigt, ist jedoch eine erste Bewegung gestattet. (Quelle)
Auch der Lehrer Asatos und Itosus, Matsumura Sōkon, schreibt in einem Brief an einen seiner Schüler, dass es „sieben Tugenden der Kampfkunst“ gibt.
Miyagi Chōjun betont in seinem Aufsatz „Karate Dō Gaisetsu“, dass Karate in der Vergangenheit in erster Linie eine Methode zur Selbstverteidigung war. Nur das Motto „Karate ni Sente nashi“ weise auf einen den Charakter ausbildenden Gehalt des Karate hin. Weiterhin zählt er bei den Stärken des Karate folgende Punkte auf:
Als Kunst für eine widerstandsfähige Gesundheit ist Karate bemerkenswert wirkungsvoll. Die vielen Meister der Faustmethode des Tōde/Karate, die ein fortgeschrittenes Alter mit einer ausgezeichneten Gesundheit erreichten, beweisen dies. […] Als Ergebnis der Stählung von Herz und Körper kann ein standhafter und unbezwingbarer Charakter ausgebildet werden.
Die Aussagen der alten Meister sind alle von ähnlicher Natur. Alle betonen, dass Karate die Fähigkeiten ausbildet sich selbst und andere zu schützen. Weiterhin wird immer wieder betont wie gesund das Ausüben dieser Kunst ist. Belegt wird das immer mit den Beispielen vergangener Karateadepten, welche ein zu ihrer Zeit außergewöhnlich hohes Alter erreichten. Ausnahmslos weisen alle Meister auf die positiven Auswirkungen hinsichtlich der charakterlichen Entwicklung eines Karateka hin. Tugenden wie Demut, Gerechtigkeit, Tapferkeit oder Beharrlichkeit werden durch das langjährige, harte Training erworben bzw. gefördert.
Wie sieht es heutzutage aus? Viele trainieren ihren Körper im Sinne der Fitness, viele arbeiten an ihrer Technik und an deren Effektivität. Aber wie viele arbeiten an ihrer inneren Einstellung? Um sich in einer Auseinandersetzung erfolgreich zu behaupten, muss vor allem die mentale Einstellung stimmen. Das oft erwähnte Kämpferherz fehlt vielen Karateka. Nicht unbedingt der bessere Techniker wird sich behaupten, sondern wahrscheinlich derjenige der es mehr will. Es gehört sowohl eine innere Gelassenheit dazu, als auch die nötige Aggressivität, wenn es darauf ankommt.
Dies kann beispielsweise trainiert werden, in dem ein körperlicher Erschöpfungszustand hervorgebracht wird, wo es dann heißt durchzuhalten, zu beißen, weiterzumachen und nicht aufzugeben, bloß weil einem die Muskeln brennen und die Lunge schmerzt. Sich selbst an seine Grenzen und darüber hinaus zu bringen und den inneren Schweinehund zu überwinden, sollte ein wesentlicher Bestandteil des Trainings sein. Mit dem Adrenalinstoß umgehen zu lernen gehört ebenso zur mentalen Vorbereitung. Es heißt ja nicht umsonst „man kämpft, wie man trainiert“.
Funakoshis fünfte Regel des Nijūkun drückt dies auch recht gut aus. Was nützt einem die beste Technik, wenn man mental nicht in der Lage ist, in einer Notsituation diese Technik auch entsprechend anzubringen.
Letztendlich kann jeder für sich selber entscheiden, wie er Karate trainiert, ob als Fitnessübung, als SV-System, als Wettkampfsport, als Bewegungsmeditation oder was auch immer. Allerdings ist das Zusammenbringen von Shin – Gi – Tai das angestrebte Ziel im Budō, also auch im Karate. Dies wird auch durch dieses Sprichwort verdeutlicht.
Shin Gi Tai Ichi Nyo – 心技体一如 – Shin, Gi und Tai sind eine Einheit.
In diesem Sinne.