Funakoshi Gichin lernte hauptsächlich bei zwei Lehrern. Zum einen Itosu Ankō und zum anderen Asato Ankō. Bei beiden erlernte er ab etwa einem Alter von 10 Jahren die Kunst des Kampfes. Funakoshi selbst sah in Asato Ankō seinen Hauptlehrer, was folgendes Zitat aus seinem von ihm im Jahre 1934 veröffentlichten Artikel „Anekdoten über meinen verehrten Lehrer, Meister Asato Ankō“ belegt:
Mein heutiges Dasein steht vollständig im Schatten des Meisters. (Übersetzung Henning Wittwer)
Immer wieder wird geschrieben, dass Funakoshi in seinen späteren Jahren in Japan ausschließlich Itosus Karate unterrichtete und viele stellen sich nun die Frage nach dem Warum. Aber ist dem wirklich so? Hat Funakoshi wirklich nur Itosus Karate unterrichtet? Diese Frage ist Gegenstand dieses Artikels und ich hoffe ein wenig Licht ins Dunkel bringen zu können. Bevor ich zum Kern meines Artikels komme, muss ich geschichtlich etwas ausholen um den historischen Rahmen abzustecken. So wird dieses Thema hoffentlich recht gut nachvollziehbar.
Die Ankunft Commodore Perrys und seiner amerikanischen Flotte im Jahre 1853 im Hafen von Uraga in der Nähe von Edo und die durch ihn forcierte Öffnung Japans für den Westen läutete eine neue Epoche in Japan ein. Durch die Demonstration militärischer Stärke wurde den Japanern schnell bewusst, dass sie in technologischen Belangen viel aufzuholen hatten. Daraufhin wurde eine grundlegende Modernisierung auf sämtlichen Wissenschaftsgebieten durchgeführt. Diese erfolgten sowohl in zivilen als auch in militärischen Bereichen. Dieser Aufbruch in ein modernes Zeitalter war unter anderem auch Ausschlag gebend für die Meiji-Restauration.
Die japanische Marine wurde nach dem Vorbild der British Royal Navy umstrukturiert und modernisiert. Die japanische Armee wurde nach dem militärischen Vorbild des Königreichs Preußen reformiert. Auch auf dem Gebiet der Medizin wurde sich an deutschen Standards orientiert. Im Jahre 1877 erfolgte schließlich die Gründung der Kaiserliche Universität Tōkyō (heute Universität Tōkyō). Die Regierung stellte fest, dass es um die Volksgesundheit nicht zum besten stand und so wurde beschlossen das Fach Leibeserziehung an den Schulen einzuführen. Die Reformen bezüglich des Schulwesens und der Leibeserziehung verliefen allerdings nur schleppend und brachten anfänglich keine richtigen Ergebnisse. Daraufhin erfolgte im Jahre 1886 die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und im Jahre 1890 wurde das Kaiserliche Erziehungsedikt zur Leibeserziehung erlassen, auf Grund dessen das Fach Leibeserziehung zum Pflichtfach an den Schulen wurde. In diesem neuen Fach wurde Gymnastik nach militärischen Vorbild durchgeführt.
Mit Beginn der imperialistischen Bemühungen Japans war der Bedarf an jungem Militärpersonal recht groß, so dass die jungen Männer des Kaiserreichs zur Musterung antreten mussten. Dies betraf auch die Präfektur Okinawa. Einige der jungen Männer gingen daraufhin nach China und verbrachten einige Jahre dort, um dem ganzen Prozedere zu entgehen. Nur wenige meldeten sich freiwillig. Im Jahre 1890 beispielsweise meldeten sich Yabu Kentsū, Hanashiro Chōmo und Kudeken Ken’yū freiwillig zum Dienst an der Waffe und zur Verteidigung des Vaterlandes. Von insgesamt 50 zu bemusternden jungen Männern waren wohl nur diese drei, alle Schüler eines gewissen Itosu Ankō, für den Militärdienst tauglich. Sie fielen besonders durch ihre starken, gesunden Körper auf. Junge Kadetten aus Okinawa, die Karate übten, fielen also positiv auf. Dies sah Itosu als Chance für die Verbreitung des Karate. Gegen Ende der 1890iger Jahre entstanden die ersten Karateklubs an den Schulen Okinawas. Die militärische Gymnastik im Fach Leibeserziehung wurde nach und nach durch Karate ersetzt und im Jahre 1905 sogar zur Pflicht, so dass jeder Schüler in Okinawa Karate in der Schule erlernte. Im Jahre 1908 schließlich schrieb Itosu seinen Brief an das japanische Erziehungsministerium in dem er Werbung für Karate als Form der Leibeserziehung machte. Im Zuge des Aufkommens eines vermehrten Militarismus und Nationalismus schlug Itosu Karate als Erziehungsmaßnahme an Schulen vor, um die Schüler besser auf ihren Militärdienst vorzubereiten. Er hob besonders den Wert des Karate zum Schmieden des Mutes und den Vorteil der körperlichen Fitness hervor.
Mit der Einführung des Karate an den Schulen musste sich Itosu mit dem Problem befassen, dass es keine Methodik gab den Karateunterricht für eine größere Anzahl von Schülern abzuhalten, denn dieser war bisher eine individuelle Angelegenheit zwischen Meister und Schüler. Mit einer großen Schulklasse war ein Einzelunterricht für jeden Schüler nun nicht mehr möglich. Da Itosu auch die Verfechter der modernen europäischen Erziehungsmethoden in Tōkyō überzeugen musste, wenn er Karate erfolgreich verbreitet wollte, wandte er sich an seine drei Schüler, die während ihrer Zeit beim Militär mit diesen Methoden in Berührung kamen. Zusammen mit Yabu, Hanashiro und Kudeken ersann er ein Konzept für den Massenunterricht. Dieses orientierte sich nun also an den modernen europäischen Methoden, die auch von der reformierten japanischen Armee verwendet wurden. Dies spiegelte sich während des Unterrichts folgendermaßen wieder. Die Schüler mussten sich nun zu Beginn einer Übungsstunde in einer Reihe aufstellen, den Ausbilder entsprechend begrüßen, die Übungen erfolgten auf Befehl, also durch lautes Zählen oder andere Kommandos und die Kata wurden vereinheitlicht.
Da Funakoshi von Beruf Lehrer war, kam er mit Sicherheit mit Itosus modernem Ausbildungskonzept in Berührung. Als er nach seinen Karate Demonstrationen in Japan blieb, hatte er genau die selben Probleme wie einst Itosu. Dies war ein Grund weshalb er an den Karateklubs der Universitäten, an denen er als Karate-Lehrer für die Massen wirkte, die von Itosu und seinen Schülern geschaffene Methodik zur Vermittlung des Karate heranzog. Ein zweiter Grund war sein Bestreben Karate als japanische Kampfkunst von der im Jahre 1895 gegründeten Großjapanischen Kampfkunstvereinigung anerkennen zu lassen. Um im Dai Nihon Butokukai (大日本武德會) als eigene japanische Kampfkunst anerkannt zu werden, musste unter anderem ein fester Lehrplan und ein Graduierungssystem geschaffen werden.
Vertrat Funakoshi nun in Japan aus unergründlichen Umständen ausschließlich das Karate Itosus? In meinen Augen nicht. Schauen wir uns einmal die Kata an, die Funakoshi für sein Karate als repräsentativ ansah und auswählte. Hier finden wir die Kata Hangetsu (Seishan). Funakoshi muss Seishan wohl von seinem Lehrer Asato gelernt haben, da sich diese Kata nicht in den von Itosu tradierten Karatelinien wiederfindet, wie ein Blick in Chibana Chōshins Shōrin Ryū verrät. Die Kata Kankū soll Funakoshi ebenfalls von Asato gelernt haben. Wichtige, von Itosu geschaffene Kata, wie die drei Rohai-Gata und diverse andere Kata die auf Itosu zurückgehen wurde ebenfalls nicht in seinem System von 15 Kata berücksichtigt.
Des Weiteren sind Funakoshis Lehren von denen seines Lehrers Asato durchtränkt, wie die nachfolgend aufgeführten Beispiele belegen. In dem oben erwähnten Artikel von Funakoshi schreibt dieser:
Der Meister sagte einmal: “Nein, die Kampfkunst macht nicht bloß die Muskeln fest. An erster Stelle steht das Verfeinern und Stählen des Geistes. Wenn die Übung des Geistes nicht ausgeführt wird, wird man kein prächtiger Kampfkünstler.”
Überdies waren die “Sun-Tzǔ”, “Wu-Tzǔ”, “Liu-T ‘ao”, “San-Lüeh”, “Wei Liao-Tzǔ”, “Szǔ-Ma Fa” und “T ‘ang Li Wên-Tui” genannten “Sieben Schriften” die Lieblingsbücher des Meisters. Besonders war der Meister aber der Meinung, dass die “Ping Fa” des Sun-Tzǔ die Bibel der Kampfkünstler sei. (Übersetzung Henning Wittwer)
Die erste Aussage spiegelt sich im fünften Paragraphen des Shōtōnijūkun (松濤二十訓) – den 20 Paragraphen – zum Karate Dō wieder. Das auch Funakoshi die in der zweiten Aussage erwähnten Bücher studierte und somit die Lehren seines Lehrers Asato aufgesaugt hat, kann an diversen Stellen in seinen Veröffentlichungen belegt werden, wo er aus diesen Quellen zitiert.
Funakoshi führte wohl im Jahre 1902 mit seinem Lehrer Asato ein Interview, welches 1914 in der Zeitschrift “Ryūkyū Shinpō” in einer Artikelserie veröffentlicht wurde. In diesem Artikel mit dem Titel “Okinawa no Bugi – Kampftechniken aus Okinawa” können die beiden folgenden Aussagen auf Asato Ankō zurückgeführt werden:
Die Stile des Karate sind die zwei Arten Shōrei-Ryū und Shōrin-Ryū. Der erste ist für einen dicken Körperbau, für große Männer, die reich an Kraft sein müssen. […] Der letzte ist für kümmerliche Kraft, für dünne Männer, die meist die Methode betonen müssen. […] Ich kann von keiner der beiden Methoden sagen, diese sei gut, jene sei schlecht, da alle beide eine Bedeutung haben.
Seit alten Tagen wurden wir in der Lehre „Karate ni Sente nashi“ unterwiesen. Aus erzieherischer Sicht werden die jungen Kinder durch diese Worte ermahnt. (Übersetzung Henning Wittwer)
Hier kann ebenfalls der Einfluss von Asato auf Funakoshis Lehren erkannt werden, da Funakoshi selbst den Mix aus Shōrei-Ryū und Shōrin-Ryū vermittelte, da diese sich an technisch unterschiedlichen Ansätzen orientieren und er stets betonte wie wichtig es wäre beide Ansätze zu kennen. So kann beispielsweise in seinem 1925 erschienenen Werk “Rentan Goshin Karate Jutsu” folgendes nachgelesen werden:
Jede Art des Karate hat ihre Stärken und Schwächen. Shōrei-Ryū ist gut für die grundlegenden Stände und Körperhaltungen, aber tatsächlich neigt er zu mangelnder Schnelligkeit. Shōrin-Ryū hat diese Schnelligkeit allerdings ist der Hacken hierbei, dass letztendlich keine Bewegungen mehr durchführbar sind, sobald man gefangen und festgehalten wird. Aus diesem Grund ist es wichtig, das ein Karateausübender die Stärken und Schwächen beider Arten kennt und in der Lage ist beide Arten zusammen anzuwenden.
Die fünf Heian-Gata bildeten hierbei die Grundlage für das Shōrin-Ryū und die drei Tekki-Gata dem entsprechend die Grundlage für das Shōrei-Ryū. Die Maxime des „Karate ni Sente nashi“ ist wohl einer der bekanntesten Paragraphen des Nijūkun und ist wohl laut Asatos Aussage eine Sache, die seit alten Tagen vermittelt wurde.
Ein Schüler Funakoshis, der Künstler Kosugi Hōan, verantwortlich für die Gestaltung des “Tora no Maki” schrieb in seinem 1930 erstmals veröffentlichten Artikel “Überlieferungen zur chinesischen Hand” folgendes über Asato:
Er mischte in der Politik mit und war jemand, der in Literatur und Kampfkunst bewandert war. Er war ein Held der Endphase des Königreichs Ryūkyū. Bei seiner Methode des Karate sagte er eindringlichst: „Betrachten Sie sowohl Hände als auch Füße als Schwerter, wenn es zur Berührung kommt!“ (Übersetzung Henning Wittwer)
Die Aussage, von der Kosugi schreibt, dass Asato dies dringlich betonte, findet sich ebenfalls im Nijūkun im 15. Paragraphen wieder und verdeutlicht sehr gut, wie sehr Funakoshi von seinem Lehrer Asato geprägt wurde.
Mein Fazit also lautet, dass Funakoshi die Lehren beider Lehrer, sowohl das moderne Vermittlungskonzept für den Gruppenunterricht und einige Kata Itosus als auch die Lehren und einige Kata Asatos weitergab.
In diesem Sinne.