Shu Ha Ri – Veränderung ist Tradition

So, Okt 17, 2010

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Die große, viele Stilrichtungen umfassende, Karatewelt ist gespalten in zwei Lager. Auf der einen Seite befinden sich die sportlich ambitionierten Karateka, die modernes Sportkarate betreiben. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die den sportlichen Wettkampf entweder komplett ablehnen oder diesen nicht als das wesentliche Trainingsziel ansehen. Diese Seite wirbt oft damit „traditionelles Karate“ zu betreiben. Unter traditionell verstehen Sie, dass Sie das Karate ganz im Sinne der alten Meister ausüben. Es werden die drei Säulen des Karate praktiziert in Form von Kihon, Kumite und zudem werden alte, überlieferte Kata einstudiert. Des Weiteren wird in vielen Dōjōs mit traditionellen Übungsgeräten trainiert wie z.B. einem Makiwara (巻藁).

Schaut man sich die Definition von Tradition einmal genauer an, so scheint dies auch tatsächlich der Fall zu sein. Laut Wikipedia leitet sich der Begriff Tradition vom lateinischen „traditio“ ab.

Traditio = Übergabe, Überlieferung
Unter Tradition wird in der Regel die Überlieferung der Gesamtheit des Wissens, der Fähigkeiten sowie der Sitten und Gebräuche einer Kultur oder einer Gruppe verstanden.

Problematisch hierbei erscheint mir, dass es für eine Tradition keine Mindestvorgaben bzgl. der Größe der Gruppe und den Zeitraum, über diesen hinweg eine Brauch gepflegt werden muss, um der Definition von Tradition gerecht zu werden, festgelegt sind. Veranstaltet ein relativ kleiner Karateverband jährlich an jedem dritten Augustwochenende einen großen Lehrgang, so sprechen viele sicherlich nach vielleicht 5, 10 oder erst nach 15 Jahren von einem traditionellen Sommerlehrgang. Mit Leichtigkeit können nun Parallelen zum „traditionellen Karate“  gezogen werden. Seit wann werden denn die Trainingsmethoden so weitergegeben, wie sie heute in den meisten Dōjōs praktiziert werden?

Schauen wir uns also noch einmal die drei Säulen des Karate an. Die meisten Kata sind mit einiger Sicherheit ziemlich alt. Kihon wurde allerdings erst eingeführt, als Karate Anfang des 20. Jahrhunderts an den Schulen Okinawas eingeführt wurde. Das Kumite wurde sogar erst entwickelt, als das Karate den Sprung auf das japanische Festland schaffte. Wenn jetzt jemand behauptet, er betreibe „traditionelles Shōtōkan Karate“ und meint damit, dass er Karate so betreibt, wie es seit ca. 1950 in Tokio betrieben wird, dann würde ich ihm recht geben und sagen: Ja, da hast du recht. Kommt jetzt allerdings jemand daher und behauptet, er würde „traditionelles Karate“ betreiben, so wie es die alten Meister auf Okinawa zur Zeit der Meiji-Restauration (um ca. 1870) taten, dann würde ich noch mal nachfragen, ob er denn auch ja keine der drei Säulen des Karate vernachlässigt. Sollte er mir dann felsenfest versichern, dass er sein Kihon, seine Kata und auch sein Kumite immer sehr gewissenhaft übt, dann würde ich sagen: Nein, da irrst du dich.

Es ist anscheinend alles eine Frage der Definition. Oder doch nicht?

In den japanischen Kampfkünsten existiert das Konzept des ShuHaRi. Dieses soll die Stufen aufzeigen, die ein Budōka auf dem Weg zur Meisterschaft erklimmen muss.

守 – Shu – Schutz, Gehorsam
破 – Ha – Bruch, Zerstörung, Frustration
離 – Ri – Abspaltung, Überschreitung

Auf der ersten Stufe Shu befindet man sich am Beginn des Weges. Hier werden die Grundlagen vermittelt. Da man als neuer Schüler keinerlei Wissen und Erfahrungen hat, ist es wichtig alles genauso zu machen, wie es der Lehrer vormacht. Das Lernen erfolgt also in Form des Nachahmens.

Auf der zweiten Stufe Ha befindet man sich, nachdem die Grundlagen erfolgreich erlernt wurden. Nun kann damit begonnen werden, einen eigenen Weg zu finden und auszubrechen, um die Prinzipien die in den Grundlagen vermittelt wurden, auf eine neue, freiere Art und Weise anzuwenden. Das Lernen erfolgt also in Form des Experimentierens.

Auf der dritten und letzten Stufe Ri, hat man nun sein eigenes Wissen und seine eigenen Erfahrungen gesammelt und ist jetzt unabhängig von den einstigen Lehrern. Ein eigenes individuelles System kann nun geschaffen werden, dass die eigenen Lehren formuliert und das sich von dem System der einstigen Lehrer unterscheidet. Das Lernen erfolgt also in Form des Erschaffens.

Die Grundlagen bleiben immer die gleichen. Lediglich die Anwendung dieser Grundlagen verändert sich mit dem fortschreitenden Lernprozess unter dem Einfluss der eigenen Persönlichkeit. Das ultimative Ergebnis sollte sein, dass der ehemalige Schüler seinen Meister irgendwann einmal übertrifft. Nur dann kann eine (Kampf-)Kunst stetig verbessert werden.

Gichin Funakoshi schreibt in seinem Buch „Karate Dō Nyūmon“.

Da sich Karate stetig verändert, ist es nicht länger möglich, über das heutige Karate und das Karate von vor zehn Jahren in einem Atemzug zu sprechen. Nur wenigen fällt auf, dass sich das Karate in Tokio heute fast komplett vom dem Karate in der Form unterscheidet, wie es früher einmal auf Okinawa ausgeübt wurde.

Dies würde, betrachtet man den Fortschritt des Karate anhand des ShuHaRi-Prinzips, einer logischen Entwicklung entsprechen. Allerdings scheint die Entwicklung des Karate in den letzten Jahrzehnten ein wenig zu stagnieren, da es sich anscheinend nicht sonderlich weiterentwickelt hat. Diese Entwicklung resultiert daraus, dass heute besonders darauf geachtet wird den ausgeübten Karatestil möglichst unverändert an die kommenden Generationen weiterzugeben. Allerdings ist dies wohl auch darauf zurückzuführen, dass heute mehr Wert auf andere Aspekte des Karate gelegt wird als damals. Heute steht beim Karate mehr die Erziehung und die Charakterentwicklung eines Schülers im Vordergrund (Dō), wohingegen in der Vergangenheit viel mehr Wert auf die kämpferische Ausbildung gelegt wurde (Jutsu). Auch damals war natürlich der Charakter eines Schülers von großer Bedeutung. Damals suchte sich ein Meister seine Schüler recht sorgfältig aus. Chibana Chōshin, einer der größten Karateexperten Okinawas und Gründer des Kobayashi Ryū, soll von Itosu wohl dreimal als Schüler abgelehnt worden sein, bevor er als Schüler akzeptiert wurde.

In seinem exzellenten Buch „Five Years – One Kata“ stellt Bill Burgar eine interessante Theorie auf. Er postuliert, dass jeder sobald er die Prinzipien des Kämpfens gemeistert hat, Verteidigungsstrategien hinsichtlich der eigenen Vorlieben und Anforderungen an die eigenen körperlichen Voraussetzungen entwickeln sollte. Das somit geschaffene individuelle Kampfsystem sollte dann in einer selbst entwickelten Kata festhalten werden. Diese Kata sollte dann die Trainingsgrundlage sein, um sich effektiv auf den Ernstfall, sich verteidigen zu müssen, optimal vorbereiten zu können. Diese Kata dient als mnemonisches System, um die entwickelten Strategien zur Begegnung von Angriffen, nicht zu vergessen. Demnach ist es eigentlich nicht sehr hilfreich sich der Gedächtnisstützen anderer Personen (Kata) zu bedienen, da überhaupt kein Bezug zu deren Vorlieben existiert.

Folgendes Szenario könnte sich abgespielt haben.

Vor langer Zeit gab es einmal drei Karatemeister. Alle drei entwickelten eine eigene Kata die aus dem gesammelten Wissen bestand, welches Sie durch das Lernen von Verteidigungstechniken unter verschiedenen Lehrern erlangten. Diese Kata dienten ihnen als Hilfsmittel bei den täglichen Übungen.

Nun gab es einen jungen Mann der jeden der drei Meister fragte, ob sie ihn als Schüler akzeptieren würden und ihm alles beibringen könnten was sie wussten. Die drei Meister willigten ein und brachten ihm ihre drei Kata bei. Der Schüler übte diese drei Kata nun drei Jahre lang täglich. Als die Zeit rum war, bedankte er sich bei seinen Meistern und zog weiter. Er wurde allerdings nicht dem ShuHaRi-Prinzip gerecht und verpasste es, seine eigenen Erfahrungen zu systematisieren und eine eigene Kata zu erschaffen. Mittlerweile hatte er selber Schüler und alles was er ihnen beibringen konnte waren diese drei Kata. Seine Schüler waren auch bei weiteren Meistern in der Lehre denen es ähnlich erging wie ihm. Somit hatten seine Schüler mittlerweile ein System aus beispielsweise neun Kata. Eigentlich bräuchten diese nur eine Kata üben, aber ihnen wurde nie gesagt, dass dies vollkommen ausreichend wäre.

In der Zwischenzeit entwickelten sich die ursprünglichen Meister natürlich weiter. Und so kam es, dass sie auch ihre Kata entsprechend der neuen Erkenntnisse anpassten. Diese veränderten Kata wurden nun wieder einer neuen Generation von Schülern beigebracht.  Und so üben nun unterschiedliche Generationen unterschiedliche Kataversionen.

Das sollte einem doch irgendwie bekannt vorkommen. Die Frage welche Version denn jetzt die richtige sei, erübrigt sich somit. Die Antwort: Alle sind richtig, nur das eine Version etwas weiterentwickelt ist als andere.

In Nakasone Genwas 1934 erschienenden Karatemagazin “Karate Kenkyū” wurde folgende Aussage von Motobu Chōki festgehalten.

Ich interessierte mich bereits seit meiner Kindheit für die Kampfkünste und studierte diese unter vielen verschiedenen Lehrern. Für sieben oder acht Jahre lernte ich unter Itosu Sensei. […] Er verbrachte seine letzten Jahre in der Nähe der Mittelschule.

Als ich ihn eines Tages in seinem Haus, nahe der Schule, besuchte,  unterhielten wir uns über die Kampfkünste und verschiedene andere Dinge. Während dessen kamen zwei oder drei Schüler vorbei und beteiligten sich an unserem Gespräch. Itosu Sensei drehte sich nach einer Weile zu ihnen um und sagte: „Zeigt uns eine Kata.“

Die Kata die sie uns zeigten war sehr ähnlich der Channan, welche ich kannte, aber es gab einige Veränderungen. Als ich die Schüler fragte, welche Kata dies denn  gewesen sei, antworteten diese: „Pinan no Kata!“

Nachdem die Schüler gegangen waren drehte ich mich zu Itosu Sensei um und sagte zu ihm: „Ich lernte eine ähnliche Kata, die sich Channan nennt. Diese Schüler haben fast die gleiche Kata vorgeführt, aber es gab einige Unterschiede.“

Itosu Sensei antwortete: „Du hast recht, diese Kata unterscheidet sich etwas von der Channan. Die Kata die du eben gesehen hast, habe ich geschaffen und meine Schüler sagten mir, der Name Pinan wäre passend, somit habe ich ihr diesen Namen gegeben.“

Diese von Itosu Sensei geschaffene Kata, wurde selbst schon zu seinen Lebzeiten verändert.

Man sieht also, dass Burgar mit seiner Theorie vielleicht gar nicht so falsch liegt. Die Pinan Kata sind Itosus Meisterwerk und somit das Vermächtnis seines Kampfsystems. Wenn sich neue Erkenntnisse ergaben, wurden diese mit in die Kata übernommen. Anscheinend wurde in der guten alten Zeit permanent experimentiert und wenn eine Änderung notwendig war, wurde nicht mit der Wimper gezuckt, sondern die Änderung durchgeführt. Es wurde kein Gedanken daran verschwendet, dass das Ändern einer Kata diese somit verfälschen könnte.

Die alten Meister waren immer auf der Suche nach den effektivsten Methoden zur Selbstverteidigung. Wenn sich etwas für den einen Meister als nicht praktikabel herausstellte, so wurde es aus dem System entfernt. Andere empfanden es vielleicht als besonders effektiv und beließen es im System oder änderten es so lange ab, bis es ihren Anforderungen genügte und ihren Vorstellungen entsprach.

Kommen wir zum Fazit. Jeder versteht etwas anderes unter traditionellem Karate. Für mich persönlich bedeutet Tradition Veränderung gemäß nach dem Prinzip des ShuHaRi. Da ich Karate als eine sehr effektive Form der Selbstverteidigung verstehe, bin ich immer auf der Suche nach effektiven Methoden, die genau diesem Zweck dienen. Da auch die Meister der vergangenen Generationen danach suchten, gehe ich davon aus, dass ich den traditionellen Weg beschreite und somit „traditionelles Karate“ betreibe. In der Definition von Tradition spiegelt sich dies wieder, denn laut dieser geht es unter anderem auch darum Wissen und Fähigkeiten weiterzugeben. Jeder Karateka sollte also auch entsprechende Fähigkeiten erlangen und nach einer gewissen Zeit fähig sein, sich angemessen zu wehren. Da jeder individuelle Vorraussetzungen mitbringt, unterscheidet sich die Art und Weise, wie jeder sich am besten verteidigen kann, natürlich auch. Jeder praktiziert irgendwann sein eigenes Karate.

Vor kurzem las ich folgendes im Internet zu diesem Thema:

Bei der Pflege und Weitergabe von Traditionen geht es nicht darum die Asche aufzubewahren, sondern darum, dass Feuer nicht erlöschen zu lassen.

In diesem Sinne.

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